Poly in Berlin

Altersfragen

Von Susa

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Spoiler: Dieser Text dreht sich - auch -  um Sexualität!

Edit: Und es ist eine Liebeserklärung, sagte Rainer, einer meiner Partner und 28 Jahre älter als ich, beim Lesen. Was stimmt.
Es ist aber auch die Geschichte eines Prozesses, den ich mir selbst ermöglicht habe habe, indem ich der Monoamorie endgültig den Rücken kehrte.

Kornelius, einer meiner Partner, mit dem ich eine weitere wunderschöne Beziehung habe und den ich sehr liebhabe, habe ich davon erzählt, wie ich mit Rainer durch diesen Prozess gegangen bin und mich dadurch selbst wieder spüren konnte.
Kornelius schwieg kurz und antwortete dann versonnen: "Dafür bin ich Rainer sehr dankbar." So kann Polyamorie auch sein.
Viel Freude beim Lesen. Susa

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Sexualität im Alter ist oftmals ein Tabu. Sehr große Altersunterschiede zwischen Partnern ebenfalls.
Ich begegne diesen Tabus ständig, wenn ich mit einem meiner Partner, mit Rainer, unterwegs bin. Immerhin könnte er mit den 28 Jahren Altersunterschied, die wir haben, theoretisch mein Vater sein. Aber wirklich nur theoretisch!

Rainer ist junggeblieben. Ich habe selten mit einem Mann so anregende Gespräche geführt, so neue Gedankenpfade ergründet und bin so tief den Geschehnissen dieser Welt, gerade den soziologischen, gesellschaftspolitischen und zwischenmenschlichen Phänomenen auf den Grund gegangen wie mit Rainer. Das macht einfach total Spaß mit ihm zusammen und die Stunden, die wir miteinander verbringen, verfliegen förmlich, so angeregt setzen wir uns mit diesen Themen und mit uns auseinander. Anfangs hat Rainer ihn mich ein wenig spüren lassen, den Altersunterschied. Rainer hat mich mal spaßeshalber sein "Hasi" genannt. Heute ein Running Gag zwischen uns, denn "Hasi" steht für das Klischee, dass deutlich ältere Männer ihre wesentlich jüngeren Frauen nicht wirklich ernst nehmen und sich ein Stück weit über sie stellen.
Rainer nimmt sich selbst genauso auf die Schippe. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als er mich angerufen und mir vor Lachen prustend erzählt hat, dass die Deutsche Bahn im eine kostenlose Seniorenbahncard angeboten hat. Wir haben beide herzhaft gelacht, ich, "das Hasi" und Rainer, der "Mann mit der Seniorenbahncard".
Rainer schaut genau hin, er nimmt viel von mir wahr und auf und er sieht, dass in unserer Beziehung kein Platz für "Hasi-Denken" ist. Und lacht über sich, weil er diesen Klischees auch manchmal auf den Leim geht.

Wie sieht sie jetzt also aus, die Beziehung zwischen dem "Hasi" und dem "Inhaber der Seniorenbahncard"?
Es ist nicht immer einfach. Das liegt aber nicht an Rainer und mir sondern an den Reaktionen unseres Umfeldes.

Was mir immer wieder begegnet, wenn ich erzähle, wie alt Rainer ist:
Die Mythen über "Sexualität im Alter". Die da wären: 
- Sexualität ist was für Junge!
- Schlaft ihr überhaupt miteinander?
- Aber das lässt doch irgendwann nach...
- Senioren brauchen keine Liebesbeziehung...
- Erregung und Lust steht nicht im Vordergrund sondern Kuscheln und Nähe
- Und der Klassiker: "Steht ER noch?"
Ob das jetzt indiskret ist oder nicht, sei dahingestellt, ich jedenfalls bin immer froh, wenn ich nach meinen Erfahrungen gefragt werde. Dadurch kann ich ein wenig mit diesen steinernen Mythen aufräumen.

Meine Erfahrung dazu:  Sexualität im Alter ist eine gewachsene, wenn man so will: eine reife Sexualität. Dieser Begriff ist für mich am stimmigsten, wenn ich den Unterschied zwischen der Sexualität mit jüngeren Menschen und älteren Menschen beschreiben soll. Und diese gewachsene und gereifte Sexualität hat ihren ganz besonderen Zauber.
Rainer hat mir sexuell eine ganz neue Welt eröffnet. Was ich vorher kannte, war: Anziehung, Spannung, Erregung, sexuelle Vereinigung bis zum Höhepunkt. Am besten kommen beide gleichzeitig. Und das war gut. Oft sehr gut.
Sexualität im Alter verändert sich, dachte ich bei mir. Es ist ein bisschen wir Slow Sex. Was anmutet wie ein knackiger Trend-Begriff, beschreibt sehr gut die Eigenschaften von reifer Sexualität (Die durchaus auch bei jüngeren Menschen vorkommt)
Klarer Vorteil: Der Leistungsdruck, der Anspruch, sich oder dem Partner beweisen zu müssen, wie gut die jeweiligen "LiebhaberInnenqualitäten" sind, rückt weit in den Hintergrund. Erregung und Lust stehen für sich, es geht nicht darum, sich oder dem anderen etwas beweisen zu müssen.
Es ist aber noch viel mehr.
Es gibt das Bewusstsein: "Kein Mensch kann für immer jung sein. Der eigene Körper, die eigene Sexualität verändern sich."
Mit Rainer blieb mir zum ersten Mal in meinem Leben der Absturz aus dem Honeymoon, aus den verliebten Höhenflügen des überbordenden, gegenseitigen sexuellen Verlangens erspart. Weil diese Art von Sexualität gar nicht erst entstanden ist. Dafür erlebte ich von Anfang an eine unglaubliche tiefe Harmonie, ein sanftes, gefühlvolles sich aufeinander-einschwingen. Diese Qualität hat Bestand, ist dauerhaft, sicher, so sicher, dass sie nicht nachlässt,  sie ist etwas, das bleibt. Und ich, ich kann mich einfach hineinsinken lassen in diese Art von Sexualität, weil nicht die Gefahr besteht, etwas liebzugewinnen, mich nach etwas zu sehnen, was mir früher oder später sowieso verlorgen geht.

Ja, ich musste meine Bilder über Sexualität über Bord werfen. Anfangs war ich ziemlich unsicher. Rainer ist so vorsichtig. So sanft und langsam. " "Will" er mich überhaupt? Begehrt er mich?" Ich wartete immer auf diesen einen Moment, in dem die Begierde des Mannes förmlich überschäumt. Warum kommt er nicht, dieser Moment, den ich in den sexuellen Begegnungen mit gleichaltrigen Partnern, wie sie mir bis dahin vertraut waren, als quasi unausweichlich erlebt habe?

Bis mir eines klarwurde: Der Sex mit einem älteren Partner ist anders. Intimer und bewusster. Es geht um Zusammensein, um Nähe, um feines Spüren, um Sensitivität - psychisch wie körperlich erregend. Wirklich ganzheitliche Sexualität.
Vor der Beziehung mit Rainer bin ich den Mythen über Sexualiät auch aufgesessen, dachte, so ist Sex, wie ich ihn bis dahin kannte und nicht anders. Ich musste umdenken.
Rainer und ich haben gemeinsam noch einen weiteren Mythos entlarvt: Den Mythos, dass sexuelles Begehren vom Himmel fällt, den Mythos der Spontanität, den Mythos, dass ein Mann "immer kann" und immer standfest ist. Den Mythos, dass Sex zwischen der "Tagesschau" und dem Feierabendkrimi einfach passiert.
Dafür haben wir Neues gelernt: Uns einen Raum zu gestalten, in dem lustvolles Vergnügen wichtig ist, es Zeit gibt für intime Berührungen, einen Raum, in dem wir liebevoll, zart und sanft, verspielt und erotisch sein dürfen. Einen Raum, in dem wir einfach "dranbleiben", wenn was mal nicht so klappt, wie wir das erwartet haben oder uns wünschen würden. Einen Raum, in dem wir uns in den Armen liegen und über uns selbst lachen. Gemeinsam. Das "Hasi" und der "Mann mit der Seniorenbahncard". 

Und was ich noch gelernt habe, nachdem ich Sexualität, Beziehung und Liebe auf diese Weise mit Rainer erfahren durfte: Meine anderen Partner, die in meinem Alter sind, gehen ähnlich wie Rainer mit Sexualität und Beziehungen um. Deswegern sind wir auch zusammen. Weil ich jetzt weiß, spüre, es auch benennen und gezielt darauf achten kann, was mir in Beziehungen guttut.
Und genaugenommen habe ich wieder einen Mythos entlarvt, dem ich aufgesessen bin: Diese sensitive Art, sich zu lieben und miteinander in Verbindung zu sein, ist keine Altersfrage. Jüngere Menschen empfinden genauso. :-)